Die Zusammenhänge zwischen Hörverlust, Demenz und Depressionen werden laut Sonova-Chef Arnd Kaldowski unterschätzt.
Giorgio V. Müller, Stäfa
Herr Kaldowski, ist der Leistungsausweis Ihrer Branche nicht ernüchternd? Leute, die ein Hörgerät brauchen, beschaffen sich keines oder warten zu lange und sind dann dementsprechend enttäuscht, weil sie nicht auf einen Schlag wieder so gut hören wie früher.
In den vergangenen zehn Jahren hat es eine deutliche Verbesserung der Durchdringung gegeben. In der Schweiz liegt die Versorgungsquote bei 41% aller von Hörverlust Betroffenen, was noch immer ein grosses Potenzial bedeutet. In den USA sind es 25%, in China erst 2%.
Haben diese Unterschiede mit der Erschwinglichkeit zu tun beziehungsweise damit, wie viel der Gesamtkosten der Einzelne selber tragen muss?
In den nordamerikanischen und europäischen Ländern mit hoher Durchdringung haben die Kunden Zugang zu Rückerstattungen, da gibt es einen Zusammenhang. Im Weiteren hängt es von der Aufklärung und dem Wissen über Hörverlust ab.
Was tut Sonova, damit mehr Leute ein Hörgerät tragen?
Wir versuchen potenzielle Kunden besser darüber zu informieren, was der Hörverlust ausser dem nicht so guten Hören auch noch alles bewirkt. Es gibt einen Zusammenhang mit Depressionen und Demenz, das Balancegefühl nimmt ab, die Gefahr von Stürzen zu. Es geht nicht nur um besseres Hören, sondern darum, die allgemeine Fitness in allen Dimensionen länger bewahren zu können.
Müssen Sie nur die Patienten aufklären oder auch die Mediziner?
Beide, und in Märkten ohne Rückerstattungen müssen wir auch noch die Krankenkassen davon überzeugen. Bei den Hals-Nasen-Ohren-Ärzten besteht noch Aufklärungsbedarf. Doch am Schluss muss der Betroffene davon überzeugt sein, dass der Abbau seines geistigen Vermögens mit einem Hörverlust zusammenhängen kann. Das versuchen wir mit klinischen Studien analytisch und medizinisch nachzuweisen. Diese Zusammenhänge werden heute noch von allen unterschätzt.
Weshalb ist das so?
Wenn heute jemand mit seinem Lebenspartner zu uns ins Geschäft kommt, wissen wir, dass dieser über einen Kauf mitentscheidet. Wenn ich mir alles zweimal sagen lassen muss und den Fernseher lauter drehe, ist ja auch der Dritte gestört. Hörverlust ist ein schleichender Prozess, und jeder Betroffene redet sich ein, er höre heute so gut wie gestern. Damit ist die Dringlichkeit weg. Tatsächlich ist es jedoch so, dass meine Hörfähigkeit jeden Tag degradiert und dieser Prozess irreversibel ist.
Wie stark spielt das Stigma eines Hörgeräts eine Rolle?
Die Stigmatisierung nimmt ab. Laut Umfragen in europäischen Industrieländern hat sich der Anteil derer, die sich aus Schamgründen kein Hörgerät zulegen wollen, in zehn Jahren fast halbiert. Auch die Grösse und Sichtbarkeit der Geräte wird nur noch von einem Viertel der noch unversorgten Befragten als Hinderungsgrund genannt. Zudem wird es immer normaler, etwas im Ohr zu tragen. Wenn es uns gelingt, auch noch einen Zusatznutzen zu integrieren, wird das den Trend beschleunigen.
Ist nicht primär die Finanzierung entscheidend? Je mehr vergütet wird, desto höher die Tragquote.
In Europa ist die Rückerstattung in fast allen Ländern gut. Das dominante Modell ist das der Schweiz und Deutschlands, wo man einen gewissen Fixbeitrag erhält. Dafür bekommt man schon ein anständiges Gerät. Für mehr Funktionalitäten muss man draufzahlen. Von den grossen Märkten sind beispielsweise in den USA die Rückerstattungen noch tief, aber auch dort nehmen sie zu, weil die Versicherer ausser den üblichen Zahn- und Brillenversicherungen vermehrt so genannte Hearing Plans anbieten, die Hörgeräte mit einschliessen. Damit differenzieren sie sich im Wettbewerb. Wir schätzen, dass 40% des Stückzahlenwachstums in den USA von solchen Zusatzversicherungen stammt. Im vergangenen Frühjahr sind wir eine Partnerschaft mit einer grossen US-Versicherung eingegangen, für die wir der bevorzugte Anbieter für die Hörgeräte sind, damit partizipieren wir gut an diesem starken Wachstum. In den USA müssen wir nicht staatliche Institutionen, sondern die Versicherungen überzeugen.
Und wie machen Sie das?
Indem wir die Langzeitkosten von Demenz, Depression und Unfällen von älteren Leuten thematisieren. Wenn wir diese Verbindungen nachweisen können, ergibt es ein enormes ökonomisches Potenzial. Was immer diese Kosten senkt, ist für eine Versicherung wichtig.
Dann ist es auch unerheblich, wie viele tausend Franken ein Hörgerät kostet, oder?
So würde die Strategieabteilung der Versicherung argumentieren. Und das Schöne daran ist, dass ich die Patientengruppe genau definieren kann, denen man mit Hörgeräten helfen kann. Solche Überlegungen finden die Versicherungen extrem spannend.
Nur mit dem Kauf eines Hörgeräts ist es aber meist nicht getan. Genauso wichtig ist es, wieder richtig hören zu lernen. Wie eng arbeiten die Hersteller mit den Anbietern von Hörtrainings zusammen?
Im klassischen Grosshandelsgeschäft sind das für uns getrennte Bereiche. Mit der technologischen Anbindung der Hörgeräte an die Smartphones gibt es indes Elemente des Hörtrainings, die ich mit den Hörgeräten unterstützen kann. Im Einzelhandel ist das Hörtraining eine Weiterentwicklung der Arbeit des Audiologen. Die wenigsten Besuche bei ihm werden wegen der Einstellung des Geräts gemacht, sondern wegen der Reinigung und der Unterstützung bei der Nutzung. Für Hörtrainings arbeiten wir mit Partnern zusammen. Für eine bessere Penetration des Marktes beschäftigen wir uns aber damit nicht.
Zwei Drittel der Gesamtkosten eines Hörgeräts gehen an den Audiologen. Ist das gerechtfertigt?
Die Art der Begleitung durch den Audiologen hängt stark mit dem Umfang des Hörverlusts zusammen. Bei den leichten bis mittleren Hörverlusten muss man weniger adjustieren. Nach einigen Jahren ändert sich das aber, denn ein Hörgerät hält ja einen Hörverlust nicht auf. Zudem leiden rund ein Viertel der Hörgeschädigten unter einem Tinnitus. Deshalb sprechen wir intern auch nicht mehr vom Einzelhandel, sondern von audiologischem Service, also einer Pflegeleistung, mit der ich den Kunden über die gesamte Betreuungsdauer begleite. Das ist mehr als nur der Verkauf eines Geräts über den Einzelhandel.
Die Bedeutung des technischen Geräts, der Hardware, nehme ab, denn für den Erfolg sei vor allem die richtige Einstellung durch den Audiologen ausschlaggebend, hört man. Stimmt diese Ansicht?
Es braucht jedenfalls einen guten Audiologen, um ein funktionsfähiges Hörgerät richtig einzustellen. Für eine gute Leistung geht es nicht ohne die Interaktion mit dem Kunden. Ich sehe keine Welt, in der man ein Hörgerät einfach kauft und es sich dann selbst einstellt.
Offenbar ist es nicht nur ein Problem, dass Hörgeräte gar nicht, sondern auch zu wenig oft getragen werden, zum Beispiel nur zu bestimmten Anlässen und Veranstaltungen.
Wir können die Tragdauer messen. Hörgeräteträger, die nicht regelmässig gecoacht werden, nutzen das Gerät tendenziell zu wenig. Wenn es nur vier statt zwölf Stunden am Tag getragen wird, beginnt der Prozess der Deprogrammierung des Hörens, das Gehirn wird nicht voll genutzt, und Fähigkeiten gehen verloren.
In den USA geht die Regulierung in Richtung Selbstadjustierung. Für milden bis mittleren Hörverlust braucht es dort künftig keinen Audiologen mehr.
Der Regulator sagt meiner Meinung nach lediglich, dass bei geringem Hörverlust ein Gerät gefahrenlos gekauft werden kann und es einen Mehrnutzen gibt. Der Kunde kann dann entscheiden, wo er seine Dienstleistungen bekommt.
Diese Kundschaft kauft aber künftig wohl vermehrt ein Gerät einfach online und passt es dann auch via Ferneinstellung an, oder?
Man wird das können. Aber damit schöpft man das Potenzial des Geräts nicht aus. Wir gehen davon aus, dass die Leute sich dank dieser regulatorischen Änderung ein Gerät früher anschaffen, und wenn der Hörverlust weiter fortgeschritten ist, dann zu uns kommen.
Der günstigere OTC-Markt wird also in den USA den gesamten Markt vergrössern?
Das erwarten wir, weil es leichter erschwingliche Einsteigermodelle gibt und man nicht den Schritt zum Audiologen machen muss. In den USA haben wir Erfolg mit unseren Abzahlungsmodellen, wo ein Kunde ein Gerät nicht kauft, sondern monatliche Zahlungen inklusive Service über fünf Jahre leistet. Für 20$ im Monat bekommt er ein gutes Hörgerät. Dieses Zahlmodell spiegelt auch unsere Leistung besser, denn wenn wegen des Entschädigungsmodells am Anfang ein grosser Betrag bezahlt wird, wie das in der Schweiz geschieht, scheint das Gerät teuer und der Service gratis zu sein.
Generell will niemand ein Hörgerät, sondern nur besser hören. Ist Hearing-as-a-service die Zukunft für Sie?
In den Märkten, wo es keine Rückerstattung gibt, ist dies ein wachsender Trend, den wir unterstützen, weil beide Geschäftsmodelle für uns attraktiv sind. In der Schweiz oder in Deutschland wird das wegen des Entschädigungsmodells schwieriger.
Gibt es dort beim Regulator kein Umdenken?
So weit sind wir noch nicht. Für den Konsumenten und für uns wäre es logisch, schwieriger ist es für die Versicherungen, die im monatlichen Zahlungsprozess eingebunden sein müssten.
Was hiesse ein Servicemodell für den Geschäftsverlauf von Sonova?
Ich kenne das von meinem früheren Tätigkeitsgebiet, der Diagnostik, in dem die Geräte vermietet werden und mit den Reagenzien Geld verdient wird. Das macht das Geschäft weniger zyklisch und die Dienstleistungen sichtbarer.
Hörgeräte werden technisch immer ausgefeilter. Ihre Kundschaft hingegen gehört der älteren Generation an. Wie schaffen Sie diesen Spagat?
Zum einen ist es unsere Aufgabe, die Geräte noch einfacher zu machen. Zum anderen ist die Altersgruppe von 60 bis 80 zunehmend online, in der privaten Nutzung sogar öfter als unsere Alterskategorie. Zudem marschieren nun die Babyboomer in unsere Hörverlustkurve hinein, die alle mit dem Computer gross geworden sind.
Wird sich die Konvergenz zwischen Hörgerät und Mobiltelefon weiter fortsetzen? Ist die Hörverbesserung künftig nur noch eine von vielen Apps auf dem Smartphone?
Das Ganze wird konvergenter, doch von der technischen Architektur her muss alles, was in Echtzeit passiert, auf dem Hörgerät geschehen, also die Sprachverarbeitung und Optimierung der Algorithmen, denn die Latenzzeit zwischen Hörgerät und Smartphone ist zu gross. Bei der Transkription eines Telefongesprächs aufs Smartphone reicht die Bluetooth-Verbindung. Die 5G-Technologie ändert daran nichts. Via Sprachsteuerung Alexa über das Hörgerät zu steuern oder Navigationsbefehle darüber zu bekommen, funktioniert schon jetzt.
International erfahrener Physiker
gvm. Wer wie Arnd Kaldowski zehn Jahre beim amerikanischen Industriekonglomerat Danaher gearbeitet hat, dem eilt der Ruf eines aquisitionserprobten Managers voraus. Tatsächlich verantwortete er dort 2014 den Kauf des Zürcher Zahnimplantate-Herstellers Nobel Biocare und führte zuletzt die 5,5 Mrd. $ umsetzende Diagnostiksparte der Danaher-Gruppe. Ob der 51-jährige Deutsche diesem Ruf beim grössten Hörgeräte-Hersteller Sonova gerecht wird, bleibt abzuwarten. Ab Herbst 2017 hatte ihn sein Vorgänger Lukas Braunschweiler während eines halben Jahres eingearbeitet, bevor er im April 2018 das Amt des Konzernchefs übernahm. Der in Ludwigshafen am Rhein aufgewachsene Physiker arbeitete zuerst als Berater bei der Boston Consulting Group in München, die ihm eine Managementausbildung an der französischen Elitehochschule Insead finanzierte. Nach einem Intermezzo bei der Wagniskapitalfirma Atila Ventures ging er für Siemens Medical nach Kalifornien. Mit seiner Frau und drei Kindern lebt er nun im Kanton Zug. Wegen eines leichten Hörverlusts trägt Kaldowski während langer Arbeitstage mit vielen Sitzungen und in schwieriger Hörumgebung gerne ein Hörgerät.
Giorgio V. Müller, Stäfa
Giorgio V. Müller, Stäfa